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Raid Laponie 2000 (Teil 1)
Wen der Winter sticht
Wie wir die kalte Jahreszeit suchten und unseren Glauben an den grauen Osten verloren

Ob Teambildungen an einer gemeinsamen Reise zerbröseln werden, probt man am besten beim Feinabstimmen des Raidautos in der Garage. Schon bald musste ich zugeben, dass Gerhard tatsächlich ein sehr umsichtiger, besonnener Schrauber ist, der mit der Technik aufs Höflichste umzugehen weiss, flink die Schraubenschlüssel findet, die ich verlege und auch das ausgefallenste Werkzeug auf Verlangen rüberreichen kann, um es von mir verlegen zu lassen. Unsere Theorien über fachlich korrekte Bremsüberholung passten zusammen wie Ober- und Unterseite eines feinen Keks aus der Prinzenrolle, was jetzt vielleicht einen ziemlich patscherten Vergleich abgibt, aber dazu später. Dass wir am Ende vergaßen, die Bremsklötze rechts vorne einzubauen, war in dieser Theorie allerdings nicht vorgesehen, weshalb wir im Finale jenes Tages an einem 2CV drei Vorderbremsen überholt hatten. Eine Kunst, auf die sich nur ganz wenige verstehen.

Nicht jedoch hatte ich es geschafft, Gerhards Handy zu ruinieren, wiewohl der erste Ansatz sehr vielversprechend verlief: Nicht im Mindesten war durch einen aufrechten Hinterwäldler wie mich zu ahnen, dass das Display nicht durch Aufklappen jenes festsitzenden Deckels freizulegen war, sondern durch simples Umdrehen des Handys.

So viel ist zu berichten vom kältesten Tag der Raid.

(Anm. d. Drivers: Um seiner Verachtung für solche Errungenschaften moderner Technik Nachdruck zu verleihen, hat er schon am ersten Reisetag den beifahrerseitig montieren Handyhalter mit einer lässigen Handbewegung durch das Wageninnere katapultiert.)

*

Ziele müssen behutsam gewonnen werden, wie alle Narren wissen. Also wählen wir nicht die Autobahn, die kürzeste Verbindung zwischen zwei Geraden, oder so, sondern den Weg durch die baltischen Staaten, drei weisse Flecken in meiner Vorstellung, die sich ziemlich grau gefärbt hatten.

Davor aber musste sich der feine Konvoi formieren. Nichts ist dazu geeigneter als ein sonntäglicher Baumarkt-Parkplatz, dort, wo die Stadt ein wenig in die Peripherie hineinfranst und heute keine Botenfahrer der Konsumwelt den Blick auf die übrigen Enten verstellen.

Wenn die Sicht getrübt wird, dann durch Beladung.

Gerhard hat Gepäck gespart, ich fülle die Ente bis zum Kragen mit Pullovern und Socken und steige ein. Gü steigt gleich wieder aus, weil er im Retourgang eine Einkaufswagerl-Garage gerammt und das Heck der Ente beleidigt hat. Verhandlungen sind zwecklos, wenn du ein Rudel von Einsatzwagerln als Unfallgegner hast, hingegen erweisen sich die spenglerischen Fähigkeiten von Arnes Fuss als äußerst heilend.

Also starten wir mit zeitlichem statt seitlichem Verzug.

*

Man muss an dieser Stelle vielleicht anmerken, dass meine Fähigkeiten als Beifahrer nicht überall in gleichem Maße geschätzt werden.

Schlafen ist das eine, was ich gut kann.

Keksessen das andere.

Auch bin ich nicht schlecht im Safttrinken und -weiterreichen.

Gibt man mir die korrekte Karte, dann kann ich sie meistens lesen.

So weit die Theorie. In der Praxis darf ich Kartenlesen und bin für die physiologisch nötige innere Befeuchtung des Fahrers zuständig, weil Gerhard beim Autofahren gerne aufs Trinken vergisst. Schon beim Einsteigen wird allerdings ein strenges Keksbrösel- und Eisteeverschüttverbot über mich verhängt. Damit ich bestimmt nie darauf vergesse, sind subtile Hinweisschilder praktisch in meinem Augenwinkel aufgeklebt.

Für mich spricht allerdings der logische Schluss, wonach einer, der schläft, nicht mit Keksen bröseln kann. (Anm. d. Drivers: Unglaublich, in jeder Lebenslage kann er schlafen, sogar mit stark schwankendem Boden unter sich – was aber erst in einer der nächsten Folgen ein Thema sein wird. Und wie es sich für einen gut erzogenen Beifahrer gehört, meldete er sich vor jedem Schläfchen ab – sogar während der Fahrt!)

*

Schon Polen schaut aus wie ein Kaursimäki-Film, abgesehen davon, dass wir nicht rauchen: Nebeltrunkene Bilder schieben sich widerwillig vorbei, die monochromatische Schwere der Landschaft lässt dich nimmer los, der Schneeregen geht am Boden trotzig in Glatteis über. Die topografischen Launen erschöpfen sich in unzähligen Schlaglöchern, welche sich als Feind der unverdepschten Felge entpuppen. Mit verdepschten Felgen hält die Luft nimmer so gut im Reifen. Auf vereisten Parkplätzen hält sich der Wagenheber nimmer so gut aufrecht, weshalb insgesamt zum Umfahren von Schlaglöchern geraten werden muss.

Nicht umfahren lässt sich hingegen Warschau, welches als aktive, beschäftigte Großstadt den Reiseweg bereichert. Wärmend wirkt da die Freundlichkeit der Bewohner: Ein Autofahrer identifiziert uns am Knäuel von Landkarten als verirrte Touristen, lotst uns durch die Stadt und lässt sich nur mühsam zur Entgegennahme österreichischen Bieres überreden.

Der Wettbewerb um den schönsten Ortsnamen der Reise ist praktisch im Norden Polens entschieden, weil die geschmeidige Eleganz von "Popovo״ praktisch nicht zu übertreffen sein wird.

*

Dass Litauen als noch ärmlicheres Land gilt, wissen wir mit der Aufrichtigkeit der Uninformierten. Nicht arm ist Litauen zumindest an Grenzstationen. Zum korrekten Übertritt müssen Formalitäten an fünf bis sieben Posten erledigt werden, zu genaueren Zählungen ist keiner von uns fähig. Wir sind nämlich gerührt, weil alles so flutscht, die Wartezeiten sind in Minuten zu messen, die Formalitäten beschränken sich auf die Entgegennahme eines, hmm, winzigen Notizzettels, auf den in loser Folge bunte Stempel knallen. Die Vorfreude auf ein bürokratisches Reisemitbringsel ist kurz, weil der letzte Posten den Zettel mit gönnerhafter Geste abheftet.

Ich hingegen unternehme erste Versuche, das Keksbröselverbot mit Pombären zu umgehen.

*

Du überfährst die Grenze, und die Welt wird bunter. Wo sich angeblich noch vor wenigen Jahren die Ödnis mit den Füchsen Gute Nacht gesagt hat (oder so ähnlich), erinnert jetzt nix mehr an die russisch eingefärbte Vergangenheit: zyrillische Beschriftungen waren schon vor der Selbständigkeit recht selten vertreten, die russischen Autos wurden wahrscheinlich vergraben und moderne Autobahnen drübergelegt.

Riga ist bunt, beleuchtet, hell und groß. Wir haben uns einen Treffpunkt mit Vladimir ausgemacht, der früher als Autodesigner tätig war und 1987 bei einem Zeichenwettbewerb beim Hollareithulliöh in Steinfeld einen Österreich-Aufenthalt gewonnen hat, verpassen den Treffpunkt und werden trotzdem gefunden. Stimmt schon, sagt er, die Oberfläche ist bunter geworden und fröhlicher, aber drunter ist noch genug vom Grau vorhanden. Man sieht es nicht als Fremder, aber man spürt es als Einheimischer. (Anm. d. Drivers: Es ist erstaunlich, welche für uns undurchschaubaren Strukturen es da noch gibt: Als ich Vladimir von der lettischen Grenze aus anrief, war ihm bereits bekannt, dass wir dort sind … nach einigen Telefonaten wird ein in der Nähe des Hotels gelegener Parkplatz als "sicher״ definiert … nach der Verabschiedung von Vladimir biegt plötzlich ein Auto aus dem Dunkel, Vladimir steigt ein und ist weg... – Es ist irgendwie wie im Film!)

*

Der Direktor des Rigaer Automuseums fährt auch eine Ente und hat ein waches Auge für andere Vögel. Wir biegen auf den Parkplatz und steuern praktisch in seine offenen Arme, werden herumgeführt und in die Highlights ostischer Automobilbaukunst eingeweiht. Daneben stehen die westlichen Klassiker der Vorkriegszeit, damals unerschwingliche Sportwagen, die gerne an Würdenträger der russischen Armee verschenkt wurden.

Das Automuseum ist schon in kommunistischen Zeiten gewachsen, die Anfänge wurzeln überhaupt in den frühen siebziger Jahren. Damals, sagt der Direktor, war ein BMW 328 für einen fabrikneuen Lada locker zu kriegen. Lada-Ersatzteile waren nämlich verfügbar, welche für deutsche Vorkriegs-Autos konnte man sich aufzeichnen.

Wir verzichten darauf, ihn zu fragen, woher der Oldtimerclub von Riga die fabrikneuen Ladas genommen hat.

Besonders stolz ist der Oldtimerclub auf den Rolls-Royce, mit dem Breschnew 1980 persönlich einen LKW gerammt hat. B. blieb unverletzt, der LKW-Fahrer vorerst sicher auch. Der Unfallwagen steht im hintersten Winkel, weil die Diskussion recht hurtig war, ob man ihn überhaupt aufstellen darf, also wurde er dorthin geschoben, wo ihn nur die Interessierten entdecken. Breschnew sitzt übrigens als Puppe noch immer hinter dem Lenkrad, im grauen Anzug, zornig, aber zahm.

So sieht subtile Abrechnung mit dem Kommunismus aus.

Weitere Highlights: Stalins gepanzerter ZIL-115 S aus dem Jahr 1949, 7,3 Tonnen schwer. Alleine die Seitenscheiben sind 8 cm dick, als Fensterheber fungiert praktisch ein türinterner Wagenheber. Einen fürwitzigen Schwachpunkt dürften die Autos dennoch davongetragen haben, sonst wären von 30 gebauten noch mehr als 2 übrig.

Etwas flinker war gewiss der Pioneer-2M unterwegs, wenngleich seltener. 1961 von I. Tichomirov gebaut, legte er schon zwei Jahre später 311,419 km/h auf den Baskuachak-Salzsee. Technische Besonderheiten: zwei Turbomotoren links und rechts des Fahrers, Alu-Karosserie, Felgen aus Magnesium.

Vor dem Weiterfahren findet Gerhard ein Pombären-Ohr unter dem Sitz. Da er es unter seinem findet, können diplomatische Verstrickungen unterbleiben. (Anm. d. Drivers: In böswilliger Absicht und um eigene Vergehen besser verschleiern zu können, hat er mir während der Fahrt ein Sackerl mit Pombrösel hingehalten und mich gezwungen hineinzugreifen!)

*

Tallin. Die Verluste der Reisegruppe belaufen sich bisher auf zwei Felgen durch Schlaglöcher sowie eine Reisetasche und ein Autoradio durch Unbekannt. Der estnische Polizist rät Sabine und Sloten, die entwendeten Gegenstände über Interpol suchen zu lassen, wir summen kurz die XY-Titelmelodie, müssen dann aber doch einsehen, dass Estland außerhalb des Sendegebietes liegt.

Es ist nicht die Stimmung, die man auf der Fähre nach Helsinki gerne bei sich trägt.

*

Was wird passieren? Werden die Temperaturen fallen, steigen oder den Blues spielen? Wird Gerhard das Pombären-Ohr reanimieren? Werden sie sich mit dem Kapitän der Fähre in Kapitänsuniform fotografieren lassen?
Weder diese noch andere Fragen beantwortet der nächste Teil dieses Reiseberichts. Fest steht nur: Es wird ihn geben.

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